Reto Vonzun

Das Museum zu Vonzun

Vieles in Reto Vonzuns Alltag dreht sich um die Juristerei – alles andere manifestiert sich in einem uralten Haus im Unterengadin. Was das mit Ai Weiwei zu tun hat, erzählt Vonzun bei Tisch.

«Ich bin ein lausiger Anwalt», scherzt Reto Vonzun beim Auftischen, «aber ein guter Koch.» In einer ofenfesten Schale aus Gusseisen serviert er das traditionelle Engadiner Bauerngericht Plain in Pigna. Eine Resteverwertung, die alle etwas anders zubereiten. Vonzun orientiert sich am handgeschriebenen Rezept seines Vaters: festkochende Kartoffeln grob raffeln, mit Bramata, Mehl, Speckwürfeln, Salami und einer Tasse Milch vermengen, das Salz und den Pfeffer kontraintuitiv weglassen – und alles zusammen so lange im Ofen backen, bis die Kruste eine knusprige Bräune erhält. «Der Vater schreibt, es brauche noch einen Salat dazu», erklärt Vonzun. «Doch Salat halte ich für überschätzt.» Er bleibt puristisch. Zum Trinken tischt er frisches Hahnenwasser auf.

002 Walder Reto Vonzun
002 Walder Reto Vonzun

«Der Vater schreibt, es brauche noch einen Salat dazu», erklärt Vonzun. «Doch Salat halte ich für überschätzt.»

Vonzuns Kochkünste überzeugen nicht nur ihn selbst, sondern auch seinen Besucher Duri Vital. Der Architekt wohnt 15 Autominuten entfernt, ist mit dem Anwalt befreundet. Vital nennt die Plain in Pigna bloss eine Engadiner Pizza, weil er das darf. Der 65-Jährige ist hier geboren, und er ist hier geblieben. Ein Engadiner durch und durch.

Vonzun verbringt die meiste Zeit des Jahres im basel-städtischen Riehen. Doch rund fünf Wochen pro Jahr, in guten Jahren sogar sechs, ist auch er hier. Eines der alten, sgraffitoverzierten Bauernhäuser im Kern des Bündner Bergdorfes Ardez ist seit Jahrhunderten in Familienbesitz.

Die Vonzuns seien eines der alteingesessenen Geschlechter der Gegend – schon lange vor Beginn des 17. Jahrhunderts. Mitten im 30-jährigen Krieg fiel fast ganz Ardez den Raubzügen des österreichischen Feldherrn Alois Baldiron zum Opfer. Die Flammen frassen sich durch die Strassen, die Häuser brannten nieder. In einem der Häuser, die bald wieder aufgebaut wurden, wuchs Vonzuns Grossmutter auf. «Sie lebten sehr bescheiden», sagt dieser. «In wirklicher Armut.» Die Küche (romanisch «chadafö») bestand ursprünglich aus einer offenen Feuerstelle, und ausser der Stube («stüva») und dem direkt darüber liegenden Elternschlafzimmer gab es selbst bei winterlichen Minustemperaturen keine beheizten Wohnräume.

«Ein untypischer Architekt», erinnert sich Reto Vonzun, «trifft einen untypischen Anwalt.»

Wo über die Tradition der Engadinerhäuser geredet wird, sind Gespräche über Duri Vital nicht weit: Rund 50 der Bauernhäuser hat er inzwischen renoviert. Dabei versteht er sich selbst nicht einmal als Architekt: «Ich bin ein Erbauer, ein Autodidakt.» Er hat als Automechaniker und Schlosser gearbeitet, in die Architektur habe es ihn eher zufällig verschlagen. Der Mythos will es so, dass irgendwie irgendwann eine englische Architektin in einem von ihm umgebauten Haus gelandet sei und gesagt haben soll: «Genau so will ich's haben.» Und jetzt sitzt Vital hier, beim Mittagessen im neuen alten Haus der Vonzuns.

Wie es soweit kam? «Ein untypischer Architekt», erinnert sich Reto Vonzun, «trifft einen untypischen Anwalt.» Für Vonzun wie für Vital steht bei allem, was sie tun, das Vertrauen im Mittelpunkt. Vital renoviert meist ohne gezeichnete Pläne, stellt kaum Offerten aus. «Stimmt die Chemie zum Kunden nicht, kann ein Projekt nicht funktionieren.» Vonzun sieht man kaum je im Anzug, nicht einmal in der Kanzlei. «Meine Klienten wollen mich, nicht meine Krawatte.» Zwei Menschen, die menscheln. Die Typologie für ein gutes Team.

«Meine Klienten wollen mich, nicht meine Krawatte.»

Hätte der untypische Architekt damals die Anfrage des untypischen Anwalts ausgeschlagen, müsste die Welt heute mit einer Freundschaft weniger auskommen. Und, wie Vonzun betont: Auch mit einer Renovation weniger. «Ich wollte dieses Projekt nur mit Duri umsetzen», sagt er. «Das ehrt mich wirklich», freut sich Vital. Und Vonzun erwidert: «Ehre, wem Ehre gebührt.» Über zwei Jahre hätten sich die Etappen des Umbaus hingezogen, jeden Tag sei Vital auf der Baustelle zu sehen gewesen. Es sei ihm wichtig, den ursprünglichen Charakter eines Hauses zu erhalten.

Das Herzstück ihrer Zusammenarbeit ist für Vonzun wie für Vital der Viehstall: Jedes einzelne Brett hatten sie herausnehmen, reinigen und wieder einsetzen lassen. Die stützenden Balken wurden versetzt, die Kalkfarbe an der Decke entfernt. Selbst die Viehtränken blieben erhalten: «Das findet man in umgebauten Häusern kaum», sagt Vonzun. Und Vital ergänzt: «Es ist immer eine Freude, hier zu sein.» So sah es wohl auch der Galerist, der im ersten Sommer der Pandemie dort, wo früher die Kühe spiesen, drei Werke des chinesischen Starkünstlers Ai Weiwei platzierte. Einmal, als während der Ausstellung die Haustür versehentlich offen stand, strömten die Besucher in den Wohnbereich statt in den Viehstall im Stockwerk darunter. Vonzun nahm es mit einem Lachen. «Ich habe keine Ahnung von Kunst», kokettiert er. Es sind die Geschichten hinter der Kunst und den Künstlern, die es ihm angetan haben.

Die fehlgeleiteten Besucher bekamen auch im Wohnbereich einiges zu sehen: Dieser ist voller Kunstwerke. Irgendwo hängt ein Porträt, das Vonzuns Vater in jungen Jahren zeigt. «Eine Verwandte, Anny Vonzun, lebte während des Zweiten Weltkriegs davon, gegen Kost und Logis Gemälde zu fabrizieren.» Irgendwo anders hängt ein Stück in Gips gefasster, chinesischer Marmor, der aussieht wie ein Acrylgemälde. Und in der hinteren Ecke des verglasten Wohnkubus, im früheren Heustall, stehen zwei silberne Skulpturen. Die Plastiken wie der Marmor stammen von Not Vital, Duris Bruder. «Es handelt sich um numerische Porträts, hergestellt durch die berühmten Silberschmiede der Tuareg im Niger», erklärt Vonzun.

Die Skulpturen bestehen aus zwei rechteckigen Blöcken. Einen für den Körper, einen für den Kopf. «Ich bin der links, der mit dem Spatzenhirn», sagt Vonzun. Dabei kann er nun wirklich nichts dafür: Die Masse der zwei Rechtecke basieren auf den Geburtsdaten der Porträtierten. Reto Vonzun, geboren am 3.9.1972: Drei mal drei mal neun Zentimeter misst der Kopf, neunzehn mal neunzehn mal zweiundsiebzig Zentimeter der Körper. Die zweite Skulptur ist einen Zentimeter höher, Geburtsjahr 1973, und auch der Kopf fällt bedeutend grösser aus – Vonzuns Ehefrau. «Irgendwann werden wir hierherziehen», sagt der Ardezer mit Basler Dialekt. Das Haus, es werde ihn sicher überleben.

Reto Vonzun

arbeitet seit knapp acht Jahren bei Walder Wyss. Der Partner verliess damals mit rund 20 anderen Personen eine Kanzlei in Basel – die Geburtsstunde von Walder Wyss in der Stadt am Rheinknie. Trotz seiner langjährigen Erfahrung sieht man den Anwalt nie in Anzug und Krawatte. Selbst mit den meisten Kunden ist er per Du. «Ich bin Anwalt, weil ich nichts Anderes kann», sagt er lachend. Das Juristische ist für ihn Mittel zum Zweck, im Fokus steht das Zwischenmenschliche. Vonzun ist verheiratet und Vater von drei Kindern. Ihre Ferien verbringt die Familie jeweils in einem Bauernhaus im Engadin, einem Familienerbstück.